Ganz kalt – ganz heiss: Die Suche nach einem Ort in Spitzbergen

Lesezeit: 7 Min.

Ein angebliches Spitzbergen-Bild

„Aha, Spitzbergen, auch so ein Ort, wo ich noch nie gewesen bin“, dachte ich, als ich dieses Bild betrachtete. Ich war beim mässig interessierten Durchblättern von digitalen Fotoalben der Junkers Flugzeugwerke darauf gestossen. In den Alben wechselten sich technische Ansichten aller Arten von Flugzeugen ab mit diversen Luftaufnahmen von europäischen Städten vor dem Zweiten Weltkrieg.
Der Bildtitel lautete: „Bilder vom Spitzbergenflug, Arthur Neumann, W. Mittelholzer“.

Bild zum Spitzbergenflug (Ans_05338-01-202-AL-FL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000092950)

Ich erinnerte mich, dass der Crowdsourcing-Kollege Thomas Pfister erwähnt hatte, dass er zahlreiche Ansichten von einer Gletscherforscher-Expedition in Spitzbergen habe verorten können. Ich dachte, dass er hier wohl ein Bild übersehen hatte. Eine Chance für mich, eine rasche Verortung zu schaffen, meinte ich, zumal das Bild ja recht übersichtlich war und viele schöne Details aufwies. Eine Hafenstadt in Spitzbergen oder Norwegen halt, mit etwas Geduld leicht zu finden, davon ging ich aus. Ich wusste, dass Mittelholzer bei einer Spitzbergenexpedition als Fotograf dabei gewesen war.

Die Suche in Skandinavien

Ein paar Stunden später war ich etwas ermattet. Die heisse Spur war erkaltet. Spitzbergen selbst war ausgeschieden, es war zu klein und zu wenig besiedelt, und in Google Maps waren auch nur sehr schlechte Ansichten der Landschaft zu erkennen. Google sieht Spitzbergen offenbar nicht als kommerziell interessante Weltgegend und tut wenig, um die Satellitenaufnahmen von hier besser aufzubereiten.

Die lange norwegische Küste hinunter hatte ich eine virtuelle Hurtigruten absolviert. Es gab zwar viele grössere Häfen, Hammerfest, Tromsö, Bergen, Christiania/Oslo, aber keiner passte zum Bild. Lange suchte ich bei den Lofoten herum. Nix. Nada.

Nun entschloss ich mich, das Bild für einmal nicht bloss von weit weg aus der Vogelperspektive anzuschauen, was für einen Vergleich von Fliegeraufnahmen mit Luftbildkarten normalerweise genügt, sondern im Detail zu inspizieren. Da fiel mir auf, dass an der Bucht nicht einfach nur gewöhnliche Hafengebäude standen, sondern grosse, prächtige und neue Geschäftshäuser, Wohnblocks und auch die eine oder andere Kirche. Der Baustil erschien mir als irgendwie lateinisch oder slawisch. In der Bucht verstreut lagen einige Inselchen. Und in der Mitte breitete sich eine ovale Fläche aus, die ich als Aufschüttungsgebiet interpretierte.

Das musste ein Hafen sein, der heute, hundert Jahre später, wohl noch viel grösser wäre und auch ganz anders aussehen würde. Ich versuchte es einmal mit Helsinki und in der Verzweiflung mit Murmansk. Nö.

Eine überraschende Auflösung

Der ursprüngliche Bildtitel „Spitzbergenflug“ war also falsch. Hmm.
War etwa „Mittelholzer“ auch falsch?

Also: Ich hatte eine Bucht mit zahlreichen Inselchen vor mir, im Hintergrund das offene Meer und bei der Einfahrt in die Bucht diese recht hohen Hügel. – Hohe und schiefe Hügel. – Moment, das habe ich doch auch schon gesehen, dachte ich, aber wo?, und schaute ohne rechte Überzeugung in Google Maps nach. Ich fand mich zunächst nicht zurecht, nur der spitze Hügel passte gut, bei einem Kindersuchspiel hätte man nun heiss, heiss! gerufen. Ich drehte die Karte gegen Südost, verschob sie nach hinten, nach rechts. Bingo! Wenn man das Viele von 2020 ausblendete, was nicht passte, weil es zu neu war, zum Beispiel diese Landebahnen in der Mitte, dann passte es.

Nun musste ich nur noch sicher sein, dass das, was nicht passte, einen guten Grund dafür hatte. Dazu brauchte ich weitere alte Bilder. Und weil im Bildarchiv von fast jeder Ansicht eine zweite, leicht anders orientierte vorhanden ist, hatte ich zur Bestätigung bald das folgende Bild gefunden:

Aufnahme des gesuchten Ortes aus einem Zeppelin (Ans_05407-01-197-AL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000096890)

Und das untenstehende Bild zeigte die fast gleiche Ansicht noch einmal:

Aufnahme des gesuchten Ortes aus einem Propellerflugzeug (LBS_MH02-34-0026, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000448460)

Es handelte sich also ohne Zweifel um die Bucht von Rio de Janeiro, mit dem Zuckerhut im Hintergrund.

Nun konnte ich frohgemut zur Ehefrau eilen und ihr die Kunde von der Entdeckung von Rio überbringen, auch als Begründung dafür, warum ich sie stundenlang vernachlässigt und angeschwiegen hatte. Ich wurde belohnt mit der Bemerkung, dass ich der Grösste sei. Ich hatte den Eindruck, dass mir auch die Katze und der Hund anerkennend zunickten.

Das gefiel mir nur eine kleine Zeitlang so, dann überlegte ich mir, dass es schon himmeltraurig war, wenn ein Bild so falsch betitelt war, dass man einige Stunden seiner Lebenszeit aufwenden musste, um die korrekte Information herauszufinden. Zumal auch jeder Kreuzfahrttourist schneller als ich auf Rio getippt hätte. Wahrscheinlich war schon im Archiv der Junkerswerke ein Stapel Bilder umgekippt und dann einfach ungeordnet in eine Schublade versorgt worden. Ich tröstete mich mit der Erkenntnis, dass ich nur so etwas Interessantes hatte herausfinden und wenigstens eine kleine Lorbeere hatte aufpicken können. Schade nur, dass Rio schon entdeckt war und einen Namen hatte, sonst hätte ich es Rio de Corona nennen können. Bei solchen albernen Gedanken verflüchtigte sich die Euphorie, denn da war doch noch einiges unklar.

Die Datierung des Bilds

Ein paar Fragen waren unbeantwortet: Wann? Wer? Warum?
Wann fand der Flug über Rio de Janeiro statt? Wer war der Pilot bzw. der Fotograf? Warum fand der Flug statt?

Der tatsächliche Spitzbergenflug von Neumann / Mittelholzer fand im Juli 1923 statt (siehe Kommentar von E. Pfenninger beim Bild Ans_05338-01-204-AL-FL). Das obige Zeppelinbild von Rio (Ans_05407-01-197-AL) stammte vom Juni 1930. Und das Flugbild mit dem grossen Triebwerk (LBS_MH02-34-0026) stammte gemäss Bildbeschreibung angeblich vom Dezember 1934.

Mir fiel plötzlich auf, dass das angebliche Spitzbergen-Bild rechts oben eine unscheinbare handschriftliche Nummer trug: 10042. Ein anderes Bild aus den Junkers-Fotoalben (Ans_05528-071-AL, datiert 1924) trug die Nummer 10040. Ein weiteres Junkers-Bild (Ans_05528-070-AL), datiert 1923, war mit der Nummer 10022 versehen:

In der Bucht von Botafogo (Rio de Janeiro) 1923 (Ans_05528-070-AL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000106050)

Die gegenseitige Nähe dieser Bildnummern, die wohl im Junkers-Archiv zugewiesen worden waren, machten die Datierung der Bilder auf 1923/1924 plausibel.

Oder wäre das Bild doch eher auf 1930 zu datieren, das Jahr des Zeppelinbilds (Ans_05407-01-197-AL)? Wenn man die Bilder genau verglich, dann konnte man erkennen, dass das Aufschüttungsgebiet 1930 schon ziemlich gleichförmig und dunkel gefärbt war, wohingegen sich das Gebiet auf dem angeblichen Spitzbergenbild noch uneinheitlich geformt und gefärbt präsentierte. Das Bild war also sicher einige Jahre älter als 1930.
1923/1924 war als Datierung weiterhin plausibel. Das gefiel mir gut.

Aber doch ein Mittelholzer-Bild?

Zuletzt machte ich mir Gedanken zur möglichen Beteiligung von Walter Mittelholzer an der Entstehung des Bilds. Hier verwirrte und verunsicherte mich die Informationslage zunehmend.

Mir war bekannt, dass Mittelholzer nach Spitzbergen, Persien, Südafrika und in den Tschad geflogen war, aber Ziele in Südamerika waren mir neu.

Da gab es zwar diese Bildserie LBS_MH02-34, die einen Flug von Walter Mittelholzer nach Rio im Dezember 1934 dokumentieren sollte.
Wenn man die Bilder aber genauer anschaute, dann gewann man den Eindruck, dass das Flugzeug und die Kleidung und die Fotokamera der Reisenden zu modern für 1934 waren – da war der Crowdsourcing-Kollege Pfister gleicher Meinung (danke, Thomas); er präzisierte auch, dass die Kamera eine Contax II von Zeiss sei, gebaut zwischen 1936 und kurz nach 1945. (Achtung: bei der Nachprüfung dieser Aussage muss man daran denken, dass die Kamera im Bild spiegelverkehrt dargestellt ist!):

Interieurs eines Gebäudes, durch einen Spiegel fotografiert (LBS_MH02-34-0030, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000448464)

Das Flugzeug hatte auch bereits zwei Triebwerke pro Tragfläche und war eine DC-4, das, so schrieb mir Thomas Pfister, würde er mit seinem Namen unterschreiben. Die Bildserie LBS_MH02-34 stammt also mit grosser Wahrscheinlichkeit frühestens aus der Zeit einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Mittelholzer nicht mehr lebte.

Woher kam denn diese – falsche – Datierung der Bildserie LBS_MH02-34 auf 1934?
Mehr oder weniger aufs Geratewohl fragte ich im ETH-Bildarchiv nach, ob bekannt sei, dass Mittelholzer im Dezember 1934 in Südamerika gewesen sei. Als grosse Überraschung stellte sich heraus, dass Mittelholzer im Dezember 1934 tatsächlich einen Flug nach Rio de Janeiro und Buenos Aires unternommen hatte – aber nicht als Pilot, sondern als Passagier in einem Zeppelin! Ernst A. Lehmann berichtet in seinem Buch Auf Luftpatrouille und Weltfahrt – Erlebnisse eines Zeppelinführers in Krieg und Frieden, Leipzig 1936, auf Seite 499 auch von der Äquatortaufe von Mittelholzer im Zeppelin nach Rio. Unbefriedigend und fast unerklärlich ist für mich, dass es von diesem Zeppelinflug keine Bilder des passionierten Fotografen Mittelholzer gibt.
Jedenfalls hat jemand das Datum von Mittelholzers Zeppelinflug (bzw. genauer die Tage vom 13. bis zum 27. Dezember 1934, als Mittelholzer in Rio war) fälschlich der Bildserie LBS_MH02-34 zugeordnet.

Als provisorische Erkenntnis konnte ich festhalten, dass Mittelholzer an der Entstehung des angeblichen Spitzbergen-Bilds mit der Ansicht der Bucht von Rio de Janeiro in den Jahren 1923 oder 1924 nicht involviert war.

Wahrscheinliche Herkunft des Bilds

Es ist anzunehmen, dass das angebliche Spitzbergen-Bild von einer Expedition der Firma Junkers in Südamerika stammt.

Wenn man die Junkers-Maschine D 217 vom unten stehenden Bild (Ans_05528-071-AL) aus dem Jahr 1924 genauer betrachtet, dann erscheint es plausibel, dass genau so ein linkes schwarzes Höhenruder von einem Flugzeug dieses Typs diesen abgerundeten schwarzen Balken am linken Rand des angeblichen Spitzbergen-Bilds verursacht hat.
Das würde wirklich ganz gut passen. Se non è vero, è ben trovato.

Victoria (Brasilien) 1924 (Ans_05528-071-AL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000106051)

Danke für die Unterstützung bei diesen Abklärungen an Thomas Pfister und Nicole Graf.

Wie können Sie mitmachen?

Sind Sie zum ersten Mal auf diesem Blog und möchten Ihr Wissen gerne mit uns teilen, Sie wissen aber nicht wie? Dann lesen Sie die ersten Punkte in der Rubrik Mitmachen. Oder klicken Sie auf den DOI-Link in der Bildlegende, wenn Sie ein bestimmtes Bild vom Blogbeitrag direkt auf E-Pics ergänzen möchten. Falls Sie selber Bilder recherchieren möchten, aber nicht wissen wie, schauen Sie sich unser Videotutorial an.

Kommentare formal richtig schreiben

Sie können uns viel Handarbeit ersparen, wenn Sie Ihre E-Mails ohne Anrede und Grussformel folgendermassen beginnend schreiben:

Vorname Name: Kommentartext

Beachten Sie zudem Folgendes:

  • Kommentar als Fliesstext ohne Absatzmarken (Enter-Taste)
  • kein Satzzeichen am Kommentarende
  • keine Absatzmarken am Kommentarende (Enter-Taste)
  • kein «Freundliche Grüsse»
  • keine Adressen/E-Mail-Signatur

Neue Bilder

Neu online gestellte Bilder werden in den Kategorien Neue Bestände oder Neue Bilder präsentiert (linke Menüführung\Kategorien auf E-Pics Bildarchiv Online).

Die neuen Bilder werden jeweils rund einen Monat in dieser Kategorie stehen gelassen.

Aktuelle sMapshot-Kampagnen

Falls Sie mehr an Georeferenzierung von Bildern interessiert sind, besuchen Sie unsere Plattform sMapshot! Die aktuelle Kampagne mit Swissair-Luftbildern läuft seit 10. April 2020.

Vollständige Bildinformationen

Unbekannt: Rio de Janeiro, Blick nach Südosten (SE), 1923-1924 (Ans_05338-01-202-AL-FL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000092950)

Teilen mit:

DOI Link: https://doi.org/10.35016/ethz-cs-11992-de

Neueste Beiträge

Neueste Kommentare

Archive

Meta

4 Kommentare

  1. Thomas Pfister
    Friday, 12. June 2020
    Antworten

    Danke für den interessanten Bericht zu dieser Spurensuche und für die Blumen. Ich will auch eine Katze, die mir anerkennend zunickt.
    Wer noch mehr zu diesen Junkers Südamerika Flügen lesen will kann das auf junkers.de machen. Mit dem Suchbegriff „Südamerika-Expedition“ findet man dort sechs Blogs, die sich wie eine Episode aus Indiana Jones lesen. Da wird geflogen, betrogen und abgestürzt, dass es eine Freude ist.

  2. August Berlinger
    Saturday, 13. June 2020
    Antworten

    Toller Beitrag

  3. August Berlinger
    Saturday, 13. June 2020
    Antworten

    Toller Beitrag – Kompliment

  4. Koni Kreis
    Tuesday, 16. June 2020
    Antworten

    Merci für die Kommentare an Thomas Pfister und August Berlinger.
    Die Blogbeiträge auf junkers.de, die ich nicht kannte, zeichnen wirklich ein dramatisches Geschehen bei diesen Südamerika-Expeditionen der Firma Junkers.
    Ich kann aus den Beiträgen aber nicht genau herauslesen, welches Flugzeug bei welcher der zwei Südamerika-Expeditionen unser Rio-Bild geschossen haben könnte. Zwar sind beide Flugzeuge der ersten Expedition schon vor Rio verunglückt, aber schon vor der zweiten Expedition gelangte eine neue Junkers F13 (die D-217 „Kauz“) frühzeitig nach Rio, sodass das Foto von ihr oder aber von einem anderen Flugzeug der zweiten Expedition stammen könnte.
    Ich lasse die Frage einmal offen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert