Die Suche nach einer Brücke in Mähren

Lesezeit: 7 Min.

Die Beschäftigung mit der Bildserie Ans_04986 „Bau einer Oderbrücke in Mähren“ war faszinierend, manchmal etwas frustrierend angesichts der fehlenden Indizien, aber insgesamt auch eine schöne Lektion in europäischer Geschichte!

Zunächst schien es einfach, den Ort dieses Brückenbaus zu finden, denn der Verlauf der Oder in Mähren ist kurz. Die Oder hat die verlangte Breite erst in der Gegend südwestlich von Ostrava bis zur polnischen Grenze. Jedoch waren über die üblichen Mittel (Bilder im Internet, Google Maps, Landkarten) keine Brücke und kein Brückenfundament zu finden, die aus dem Ersten Weltkrieg hätten stammen können. Es gibt zwar eine Bahnlinie südwestlich von Ostrava, die um 1925 auf den Landkarten auftauchte, aber die zugehörige Oderbrücke schien viel neueren Datums zu sein. Es war auch, aus sprachlichen Gründen, schwierig, tschechische Informationsquellen zur Brücke zu verstehen.

So kam die Suche nach der Oderbrücke zwischen August 2017 (Blogpost) und Februar 2019 nicht wesentlich vom Fleck!

Gemeinsame Recherche via E-Mail

Thomas Pfister stellte nach erfolglosen Recherchen in einem Blogkommentar die berechtigte Frage, ob wir denn sicher seien, dass die Brückenbaustelle an der Oder und in Mähren gelegen sei. Ich argumentierte, dass die Bilder gewiss nicht ohne Grund so betitelt worden wären und dass es nicht ausgeschlossen sei, dass es sich doch eventuell um die Brücke zwischen Vitkovice/Witkowitz und Polanka an der Oder handeln könnte.

Thomas Pfister und ich schalteten darauf auf direkten Email-Verkehr um und diskutierten die Indizien (Landschaft, Flussverlauf, Fundamente usw.), die schon irgendwie «passten». Dazu kam, dass plötzlich Texte von tschechischen Lokalgeschichte-Websites, übersetzt im Google-Übersetzer, eine passende Geschichte zur Brücke beisteuerten. Die Erwähnung von Kriegsgefangenen machte uns hellhörig. Das Googlen im Internet mit dem Begriff „Polanecká spojka“ (dt. „Verbindungsstrecke nach Polanka“) ergab zahlreiche Treffer. Aber es hätte immer noch sein können, dass die vielen plausiblen Informationen zwar eine reale Brücke in der Gegend beschrieben hätten – aber nicht die Brücke von unseren Bildern.

Zurück zu den Originaldokumenten: die Postkartenrückseiten

Im Bildarchiv wurden nun glücklicherweise zwei zusätzliche Postkartenrückseiten gefunden, deren Texte und Poststempel uns den vermuteten Ort der Brückenbaustelle bestätigten.

Unbekannt: Brücken-Widerlager mit Besuchergruppe, 03.08.1916. Postkartenrückseite (Ans_04986-027-VE, http://doi.org/10.3932/ethz-a-001077530)

Dies erlaubt, die Bildserie so in der Geografie und der Geschichte zu verorten:

1909 bekam die k.k. priv. Ostrau-Friedlander Eisenbahn, tschechisch: priv. Ostravsko-frýdlantská dráha, die Konzession für eine Lokalbahnstrecke zwischen Schönbrunn-Witkowitz und Kunzendorf/Kuncice und von dort nach Suchau und Teschen/Český Těšín. Von Kunzendorf sollte, praktisch als Südumfahrung von Mährisch Ostrau, eine Abzweigung über die Oder nach Polanka an der Nordbahnstrecke gebaut werden.

Die Strecke nach Teschen wurde noch vor 1914 fertiggestellt, die Abzweigung nach Polanka aber erst 1916 begonnen. Als Bauunternehmung wurde die bekannte Firma A. Lanna des Freiherrn (Barons) Adalbert Franz Joseph von Lanna beauftragt. Der damalige Sinn des Bauwerks war, den Transport von Kohle nach Wien und von Nachschub an die galizische Front zu erleichtern.

Unsere Bilder zeigen nur die Bauphase im Sommer 1916, als mit Hilfe von russischen Kriegsgefangenen die Fundamente der Oderbrücke im Bau waren.

Unbekannt: Floss mit Kiesbagger-Mechanismus, 1916 (Ans_04986-024, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102769)

Die Bilder zeigen die Gewinnung von Kies aus den Flussschlingen der damals noch nicht begradigten Oder und den Antransport grosser Maschinen.

Unbekannnt: Dampfkessel auf mindestens sechsspännigem Ochsenkarren auf dem Weg zur der Baustelle, 1916 (Ans_04986-010, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102755)

Im Weiteren konzentrieren sich die Bilder auf die Konstruktion der Fundamentverschalungen und das Absenken der Senkkästen der Fundamente im Untergrund.

Unbekannt: Stahlschuh eines Senkkastens (Caisson), 1916 (Ans_04986-003, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102748)
Unbekannt: Innere Schalung der Arbeitskammer eines Senkkastens, 1916 (Ans_04986-005, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102750)
Unbekannt: Armierung und Verschalung des Senkkastens (Caisson), 1916 (Ans_04986-008, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102753)

Konstruktion oder Bauunfall?

Lange blieb die Frage offen, ob das Fundament auf diesen Bildern bewusst schräg eingesenkt wurde oder durch einen Fehler in Schräglage geraten ist. Die Erwähnung eines „umgestürzten Pfeilers“ auf einer Postkarte brachte uns zur Einsicht, dass hier Hindernisse im Untergrund die Fundamente schiefgestellt haben. Russische Kriegsgefangene stützen den schiefen Pfeiler mit Holzpfosten und grossen Spreizzwingen ab.

Unbekannt: Aufrichten des Brücken-Widerlagers, 1916 (Ans_04986-015, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102760)

Die städtisch gekleideten Zuschauer um den schrägen Pfeiler auf diesem Bild, darunter ein österreichischer Offizier, sehen aus wie leitende Personen, die zur Beurteilung der Situation angereist sind:

Unbekannt: Brücken-Widerlager mit Besuchergruppe, 1916 (Ans_04986-013, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102758)

Der Fotograf hat sich auch sehr für die speziellen Maschinen interessiert, die für den Brückenbau eingesetzt wurden. Ihre Funktionsweisen sind mir noch nicht in jedem Detail klar.

Unbekannt: Druckkammer mit Betonschleuse für das Ausfüllen der Arbeitskammer im Fundament, 1916 (Ans_04986-018, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102763)

Der Bau der einspurigen Bahnstrecke, später auch unter Einsatz von italienischen Kriegsgefangenen, dauerte nicht wie geplant 4 Monate, sondern 4 Jahre, bis 1920. Weil sich das wirtschaftliche und politische Umfeld geändert hatte, wurden Brücke und Bahnstrecke nicht in Betrieb genommen. Die neue entstandene Tschechoslowakei sah keinen Sinn in der Strecke. 1935 wurde der Bahnüberbau, aber nicht die Brücke, abgebaut. Ab 1939 gehörte das Gebiet westlich der Oderbrücke zum Reichsgau Sudetenland. Und 1943 wurde die Oderbrücke abgebaut und nach Belgien transportiert, wo sich ihre Spur verliert. Es ist möglich, dass wir nie wissen werden, wie die Brücke aussah.

Die Brücke im Verlauf der Weltgeschichte

Im Frühjahr 1945 überquerte eine tschechische Panzerkolonne die Oder bei unserer Brücke, um die deutschen Truppen im Rücken bei Ostrava anzugreifen. Im Gedenken daran wurde 2005 am östlichen Brückenkopf ein Denkmal errichtet, das dazu führte, dass von der Umgebung zahlreiche Fotos gemacht und in Google Maps gepostet wurden. Zwei Fotos zeigen zufällig den Unterbau der heute existierenden Brücke, der durchaus dem Unterbau von 1916 entsprechen kann.

Flugaufnahmen ab 1946 zeigen die Bahnstrecke ohne jegliche Gleise und ohne die Brücke, aber zwei deutlich sichtbare Brückenpfeiler östlich und westlich der Oder und in gleichem Abstand weiter westlich ein weiteres Fundament, was zur Situation auf dem Bild Ans_04986-028 passt.

Unbekannt: Brückenbaustelle mit Druckluftgeneratoren, Steinblöcken und Baracken, 27.09.1916
Postkartenvorderseite (Ans_04986-028-RE, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102773)

1963/1964 wurde die Bahnstrecke von der CSSR zweispurig wieder in Stand gestellt, weitgehend auf dem früheren Trassee und unter Verwendung der alten soliden Brückenfundamente. Ein kleiner Rest der alten Eisenbahnstrecke ist erhalten geblieben mit der alten Brücke über den Bahneinschnitt neben der neuen Brücke der Výškovická-Strasse in Ostrava-Jih. StreetView erlaubt uns einen Blick zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs… 

Die wirkliche Bestätigung, dass die Brücke der „Polanecká spojka“ beim heutigen Ostrava-Jih unsere Oderbrücke war, ergibt sich aus zwei Postkartenrückseiten, die vom Bildarchiv nachgeliefert worden sind. Die zwei Postkarten vom 3. August und 27. September 1916 wurden nämlich in Schönbrunn/Svinov und in Zabreh nad Odrou abgestempelt, also in den Nachbardörfern nordwestlich und nordöstlich der Brücke.


Postkartenrückseite (Ans_04986-028-VE, http://doi.org/10.3932/ethz-a-001077529)

Und ganz viel Stoff für weitere Geschichten…

Thomas Pfister und ich haben den Text dieser Postkarten zu entziffern versucht. Lange war uns z.B. nicht klar, was dieser Text heisst: «Hex (?) wäre vorgestern bald ertrunken bei Hochwasser wegen eines Apportels (?)». Wir sind zum Schluss gelangt, dass damit die Hündin des Fotografen oder von jemandem auf der Baustelle gemeint ist, der bei Hochwasser ein Stöckchen geworfen worden war. Diese Hündin ist wie als Maskottchen auf zahlreichen Bildern zu erkennen, z. B. hier (finden Sie sie?):

Unbekannt: Ponton als Lastkahn, 1916 (Ans_04986-026, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102771)

Dass die zwei gelaufenen Postkarten auch zum Konvolut dieser Bilder gehören, kann übrigens zur optimistischen Annahme bewegen, dass sich die Beziehung des Kartenschreibers zum H.W. Fräulein Mizzi Chudazek in Wien wohl weiterentwickelt hat.

Die Geschichten um unsere Oderbrücke gäben viel Stoff her für einen Drehbuchautor. Es ist ja alles drin: eine Brücke, die nie befahren wird, ein Hund, der nicht ertrinkt, und darum herum drei Kaiserreiche, die untergehen…

Einige Quellen

Tschechische Archive für Landkarten und Orthofotos, https://archivnimapy.cuzk.cz und http://lms.cuzk.cz/lms/

Wikipedia-Artikel zur tschechischen Bahnstrecke 321 Český Těšín–Polanka nad Odrou und zur Ostrau-Friedlander Eisenbahn , deutsch und tschechisch

Website zum Bahnhof Vitkovice, mit diversen Artikeln zur Geschichte, Autoren Petr Přendík und Jaroslav Bureš, http://www.nadrazivitkovice.cz/?cat=5

Website zur Geschichte von Ostrava-Jih (-Süd), div. Artikel, u.a. http://historie.ovajih.cz/nadrazi-pro-jizni-mesto/

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Vollständige Bildinformationen

Unbekannt: Ponton wird mit Flusskies beladen. Oderbrücke bei Zábřeh in Mähren an der Normalspurlinie Polanka-Kunčice, 1916. Serie mit 28 Bildern (alle digitalisiert) (Ans_04986-002, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102747

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DOI Link: https://doi.org/10.35016/ethz-cs-8059-de

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