Lust und (manchmal) Frust eines Dampflok-Kommentierers

Lesezeit: 7 Min.

Die Statistik würde von der Anzahl meiner Kommentare her vermuten lassen, dass vor lauter Einsendelust der beigemischte (mehrheitlich augenzwinkernde) Frust an einem praktisch symbolischen Ort versteckt sein müsste. Ganz so frei von Stolpersteinen sind aber die Verhältnisse nicht. Dieser Beitrag möchte die Motivationen und die Fallstricke von Dampflokomotive-Kommentaren aus Einsenderoptik, letztlich aus meiner ganz subjektiven Sicht offen legen, dies stellenweise durchaus mit einer gewissen Ironie, eben nicht zuletzt mir selbst gegenüber.

Von der Lust am Erklärbaren und der Recherchierfreude

Die Lust stammt primär daher, dass eine Dampflokomotive auf den ersten Blick leicht erklärbar ist, sich fast alles dem Auge zeigt, die inneren Abläufe weitgehend selbsterklärend sind und das Abstraktionsvermögen nicht strapaziert wird. Zudem ist die Dokumentationslage recht gut, es gibt Dampflokliteratur zu Hauf, das Internet ist gut gefüllt und der Bestand der ETH-Fotobibliothek erstaunlich. Nicht zuletzt sind Dampflokomotiven in unserer Digitalwelt zu Sympathieträgern geworden – was sie längst nicht immer waren. Die Recherchierfreude hat also ein weites Feld.

Zum Frust der Splittergattungen und exotischen Ausnahmen

So weit, so lustvoll. Der erste und offensichtlichste Frust dabei ist, dass sehr rasch und auf verschiedensten Ebenen das berüchtigte „Aber“ auftaucht, scheinbar einfache Erklärungen sich differenzieren, die Überblickbarkeit dahinschwindet – und zwar auf den verschiedensten Ebenen der Betrachtung.

Die ganzen Schwierigkeiten beginnen – und das ist noch die einfachste Komplikation, weil nicht systemischer Art – mit den Eigenheiten des vorhandenen Bestandes: sehr oft handelt es sich um Einzelfälle, Splittergattungen, exotische Ausnahmen, gerade bei den im ETH-Bestand sehr gut vertretenen britischen Lokomotiven des 19. Jahrhunderts. Und bei den allerspannendsten Fällen ist dann möglicherweise die Bildqualität mässig, sodass sich Details nicht erkennen lassen…. dann wird es sportlich!

Unbekannt: Chemins de Fer de l‘Etat belge, ca. 1895 (Ans_05373-0082, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000102889)

Ein Exot: die älteste in Europa noch im Original vorhandene Dampflok, erbaut 1845 von den Ateliers Gustave de Ridder für die schmalspurige Bahn (Spurweite 1,145m) von Antwerpen nach Gent. Man beachte die „verkehrte“ Anordnung der Zylinder. Mit „1 A 1 n2t“ gemäss UIC wäre über dieses absonderliche Gefährt praktisch nichts gesagt. Das Bild ist offenbar bei der Überfuhr in den musealen Zustand im Jahr 1895 entstanden.

Die erschlagende Fülle von praktisch gleichartigen Bildern

Oder es ist dann auf der anderen Seite eine erschlagende Fülle von praktisch gleichartigen Bildern/Maschinen zu referenzieren, etwa bei Standardbauarten wie die BESA-Loks in Indien. Dem Schreiber widerstrebt es dann in diesen Fällen aus persönlichem Prinzip, auch die zugehörigen Texte standardmässig durch copy-paste zu perpetuieren – und die bemühte Suche nach Synonymen oder Nuancierungen wird dann auf der anderen Seite doch zur reinen Sprachübung , weil die sprachlichen Verfeinerungen (offenbar) ohne praktischen Nutzen für die potenziellen User sind…

Stuart, J.: North British Locomotive Company Glasgow (NBL) L201, Bombay Baroda & Central India Railway 92, 1906. 2-8-0 Zweizylinder Nassdampf-Güterzugslokomotive mit Innenrahmen, Aussenantrieb und Innensteuerung nach Stephenson, Breitspur, UIC: 2_D n2 (Ans_05373-1618-FL, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000104351)

Standardlok des BESA-Typs „Heavy Goods“ (HG), welcher zwischen etwa 1903 und 1915 in grossen Stückzahlen für fast alle Bahnen Indiens geliefert wurde. Ausser den Schildern und der (meist farbenfrohen) Bemalung waren diese zahlreichen Maschinen praktisch identisch. Auf solche individuellen Merkmale und allenfalls gewisse Hintergründe weist der Einsender jeweils hin. BESA steht für „British Engineers Standards Association“.

Die Krux mit den internationalen Normen

Systematiker mögen einwenden: das ist doch alles ganz einfach, es gibt die Normen der Union Internationale des Chemins de Fer (UIC), dieses Regelwerk mit seinen standardisierten Abkürzungen genügt. Genügt? Ja, für einen oberflächlichen Ersteindruck, eine grobe Gliederung, eine annähernde Kategorisierung. Nur sind die Hilfestellungen des UIC-Regelwerkes erst nach der grossen Epoche der Dampflokomotive entstanden und stellen somit eine künstliche, verwaltungsbasierte ex-post Nomenklatur der „Dampflokwelt“ dar, die es noch gar nicht gegeben hatte, als es auf den Schienen noch überall dampfte. Immerhin und glücklicherweise baut das UIC-System auf dem vorbestehenden Schema Deutschlands und teilweise auch der Schweiz auf, was es hierzulande relativ leicht lesbar macht, zumal die offiziellen UIC-Denominationen und Abkürzungen weitgehend auf die deutsche Sprache zurückgehen.

Vor der UIC-Epoche folgte der Beschreibungskodex ausschliesslich nationalen Mustern, Muster die sich aber zäh erhalten haben und in der Regel noch äusserst lebendig sind und vor Ort von Insidern gewissermassen täglich gebraucht werden. Diesen Eigenheiten, von mir aus Schrullen, ausgehend von der UIC und den bibliothekarischen Zwängen, einen Standardbeschrieb überzustülpen ist – zumindest für den Schreiber dieser Zeilen – eine Verneinung (ich schreibe nicht Vergewaltigung) der gewachsenen und tradierten Gewohnheiten, die nach wie vor höchst lebendig sind.

Hier ein Beispiel:

Unbekannt: Great Western Railway (GWR) Hall class, 4986, 1924-1930. Baujahr 1924, schnelle 2-Zylinder-Lokomotive für gemischten Verkehr (Ans_05373-0427, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000103232)

Dieser Loktyp ist in fast allen Ländern weit verbreitet. Nach UIC ist es eine 2’C h2, in Worten eine Zweizylinder- (oder Zwillings-) Heissdampflok mit führendem Drehgestell und drei Triebachsen.

Von nationalen Gepflogenheiten

NUR: Jeder echte British Railfan ruft spontan aus: „Collett’s 4-6-0, Hall Class, GWR“. Der Lokdesigner fast immer zuerst (im Normalfall ist das „anständig“, wenn er geadelt wurde, Pflicht), dann die Achsfolge im angelsächsischen Whyte-System, dann die Eigentumsverwaltung. Der Kollege in den USA, lässig: „Ha, a typical european ‚ten wheel‘, how tiny, how neat, how proper – probably British“, der Franzose brächte es mit „une 230X“ lapidar (in seinen Augen) auf den Punkt, ein Schweizer würde wohl sagen eine Art von A 3/5, nur gerade der deutsche Dampflokfreund würde von einer „2’C“ reden, zur Präzisierung vielleicht noch „ähnlich preussische Baureihe S-10 oder P-8“.

Bei all diesen nationaltypischen Aussagen wäre dann für den örtlichen Verwender „der ganze grosse Rest“ auch klar, etwa die Anordnung des Antriebes, die Bauart der Steuerung, die thermischen Unterscheidungsmerkmale – und dann, am allerinteressantesten – noch das ganze Narrativ zu diesen Loks.  

Ein Beispiel aus der Schweiz:

Bärtschi, Hans-Peter: Zürich, SBB E 3/3 8517, 1966 (SIK_01-000140, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000503988)

SBB E 3/3 (alt-amtlich), Cn2t (UIC): alles objektiv bestens, aber die Zungen lösen sich erst beim Kosenamen „Tigerli“: Jetzt weiss man Bescheid.

Die reale, in der Praxis verwendete Dampflokterminologie ist also von einer grossen Zahl nationaler Eigenheiten geprägt, die an sich ungemein interessant und anregend sind, aber eine „knackige“, also gleichzeitig bibliographisch befriedigende Beschreibung nicht gerade erleichtern, ja ganz deutlich erschweren: das ist eben der Frust – die wahre Lust wäre es doch, vorerst schriftlich, bspw. eben in den Beschreibungen, in der Dampf-Folklore des jeweiligen Landes zu schwelgen und – last but not least – mit diesen staunenswerten Vehikeln letztlich auch zu fahren!

Zum Schluss ist nicht zu vergessen: die eingeschworenen Dampffreunde der ganzen Welt verstehen sich ohne viele Worte implizit, dieser „Szene“ brauche ich via Crowdsourcing nichts zu übermitteln, diese Leute „sehen durch“ – es geht, wie von der ETH richtigerweise beabsichtigt, darum, dem durchschnittlichen Sucher das Finden durch eine halbwegs griffige und von nationalen Eigenheiten entschlackte Systematik zu erleichtern und dabei en passant vielleicht das latent vorhandene Dampflokomotiv-Feuer noch ein wenig mehr zu entfachen!

Bibliographisches vs. subjektives Schreiben

Dass der mithilfe unserer Kaste verbesserte Katalog letztlich kein Gefäss für Hintergründe, Geschichten und Subjektivismen sein kann, muss, gerade auch vom Autor dieser Zeilen, zähneknirschend akzeptiert werden, für das Narrativ müssen, hmmm… andere Formate gesucht werden. Der tiefer gehende Frust dabei ist eben, dass das ausserhalb von ganz engen Zirkeln kaum jemand macht, sich keine breiter angelegten Foren dafür finden und somit … dieses Gedankengut tendenziell und mit der Zeit wohl ganz verloren geht:

Seltenes Beispiel für das Gegenteil, nämlich dafür, wo das Narrativ bekannter ist als die Lokomotive:

Unbekannt: Cowlairs Works, North British Railway (NBR) 224, 1885-1897. Es ist die unglückliche Maschine, die am 28. Dezember 1879 mit ihrem Zug mit der zusammenbrechenden Brücke in den River Tay stürzte. Baujahr 1871, 2 Exemplare, Design: Thomas Wheatley, Achsfolge 4-4-0, vor dem Unglück Nassdampf Zwilling, class 224, Wiederinbetriebnahme 1885, Ausmusterung dieses Sonderfalls erfolgte 1919 (Ans_05373-0524, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000103329)

Kurz und knarsch: eine 2’B n2.

Etwas elaborierter: North British Railway, Thomas Wheatley 4-4-0, class 224 (2 Exemplare) für Schnellzüge, Innenantrieb und Stephenson-Innensteuerung. Scheibenräder beim Drehgestell.

Narrativ: Das Bild zeigt präzis, also auf die Nummer genau,  die elegante Unglückslokomotive, die am 28. Dezember 1879 den Zug über die Brücke über den Firth of Tay führte, als diese im Sturm einstürzte. Wer kennt nicht die zugehörige Ballade „Die Brück‘ am Tay“ von Theodor Fontane mit dem wiederkehrenden Reim  „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“. Das dramatische Gedicht besteht aus fünf Strophen zu je vier Paarreimen (jambischer Tetrameter), ausserdem einem Prolog und einem Epilog, der von drei Hexen gesprochen wird. 2019 wird der 200. Geburtstag von Fontane gefeiert. Voilà der völlig überflüssige Schlenker in die spätromantische Poesie…..

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Unbekannt: Dampflokomotive, Grossbritannien, für den Export, ca. 1930 (Ans_05373-0886, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000103688)

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DOI Link: https://doi.org/10.35016/ethz-cs-9429-de

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Ein Kommentar

  1. August Berlinger
    Saturday, 14. September 2019
    Antworten

    Toller Blog-Beitrag 🙂 *****
    Schon fast literarisch – auf jeden Fall von der Qualität eines Print-Beitrages eines sehr guten Journalisten.
    Ich kann das Prinzip eines jeden Satzes unterschreiben.
    Nur dass ich manchmal meinen Frust indirekt mit Kommentaren an den ETH-MitarbeiterInnen auslasse 🙁
    Oder dass ich mich überhaupt nicht geniere, nicht nur streng dem Gegenstand gerecht zu werden, sondern emotionale Zusatzkommentare loslasse – aber die kann man ja überlesen und mein „Dampf“ ist weg.
    Herzlichen Dank an Schreiber und Veröffentlicherin.

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