Walter Mittelholzer gilt als Pionier der schweizerischen Luftfahrt und Luftfotografie. Seine Bilder zur Landschaft Toggenburg sind eindrücklich und vielfältig. Im Fokus steht diesmal das industrielle Toggenburg. Der Vergleich der Bilder aus den 1920er Jahren mit Bildern der Gegenwart stellt und beantwortet zahlreiche Fragen.
Der 1894 in St. Gallen geborene Walter Mittelholzer entdeckte früh sein Talent für die Fotografie. Der Einstieg in die Fliegerei folgte seiner grossen Passion, der Fotografie. Er wurde vorerst Fotograf der jungen Fliegertruppe und erst danach Pilot. Ab etwa 1919, also kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs, arbeitete Mittelholzer bereits erstaunlich erfolgreich und gut vernetzt als Luftfotograf. Eine besondere Beziehung zum Toggenburg entwickelte sich aus den zahlreichen Kontakten mit dem flugbegeisterten Industriellen-Ehepaar Bertha und Eduard Heberlein aus Wattwil. Heberlein agierte als Förderer der Fliegerei und als Gönner für Mittelholzers Persienflug Ende 1924, Anfang 1925. Die Anwesenheit des Ehepaars Heberlein in Isfahan ist fotografisch dokumentiert.
Der Start- und Landeplatz bei Isfahan mit dem Ehepaar Heberlein und Mittelholzer vor der Junkers A-20 mit der Schweizer-Flugzeugkennung CH-130.
Der Bildnachlass, der erfreulicherweise im Bildarchiv der ETHZ zugänglich ist, lässt zudem vermuten, dass zahlreiche Bilder im Auftrag von Industriellen, Fabrikanten und Institutionen entstanden. Das Luftbild etablierte sich damals auch als Mittel der Selbstdarstellung. Der Pilot
und Luftfotograf Mittelholzer dokumentierte ein Stück Landschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte aus exklusiver Perspektive.
Die folgende kommentierte Bilderserie folgt dem Thurtal bis zum nördlichsten Punkt der Landschaft Toggenburg und schliesst mit dem industriell bedeutenden Bezirk Untertoggenburg. Das Bildmaterial verdanken wir dem Bildarchiv der ETHZ.
Trempel bei Krummenau um 1919. Die Weberei und Baumwollzwirnerei Niederer & Co im Trempel nutzte die Wasserkraft der Thur. Dahinter ist der heute vergessene Steinbruch Krummenau zu sehen.
Das Gebiet Trempel und der BT-Bahnhof Krummenau im Mai 1998. Die Sicht erfolgt talabwärts, etwa aus der gegenseitigen Perspektive.
Ebnat-Kappel um 1919. Die Aufnahme zeigt das Ortsbild rund um den einstigen Bahnhof der Toggenburgerbahn. Die Bürstenfabrik Ebnat-Kappel liegt unmittelbar neben dem Bahnhof. Im Vordergrund ist die in der vormaligen Rotfarb eingerichtete erste schweizerische Turngerätefabrik Alder-Fierz & Gebr. Eisenhut erkennbar.
Ebnat-Kappel im Juli 1986.
Wattwil vermutlich um 1921: Im Bild ein Wasserreservoir am Hang, die Textilfirma Heberlein mit dem korrigierten Flussbett der Thur und rechts davon das Bahnhofgebiet mit dem Gaswerk und den Schwegler-Bauten.
Wattwil im Juni 2012. Von der einst dominanten Textilfirma ist nicht mehr viel zu sehen. Etwa aus der gegenseitigen Perspektive erfolgt die Sicht auf die neu besetzte Industriebrache.
Lichtensteig, oder ein Abschnitt Energietal Toggenburg um 1919. Die St.Galler Feinwebereien
AG nutzten die Wasserkraft der Thur ebenso wie obenliegende die Spinnerei. Die Schleusenanlage mit den Wasserkraftanlagen beim Städtli gehen auf die mechanische Spinnerei Niederer zurück.
Lichtensteig im August 1986. Im Vordergrund das heute als «Erlebniswelt Toggenburg» bekannte einstige Areal der Feinweberei.
Dietfurt um 1920. Auf engem Raum konzentriert sind der Bahnhof, der Thurübergang sowie die Textilindustrie mit der Weberei und dem Appreturwerk im Hintergrund. Die Güterwagen auf dem Bahnhofgelände zeugen vom damals noch lebhaften Bahngüterverkehr.
Dietfurt im April 1994.
Bütschwil um 1920. Die Weberei im Soor nutzte die Wasserkraft der Thur. Die um 1920 entstandenen Fabrikhallen deuten auf hohe Zukunftserwartungen jener Zeit hin. Bemerkenswert ist der Kiesabbau beim Gebiet Michelau, der damals mit einem Anschlussgeleise der SBB erschlossen war.
Bütschwil im Juli 2009. Aus der Weberei wurde der Soorpark, ein Areal für vielfätigste gewerbliche Nutzungsformen.
Felsegg bei Henau um 1920. Die Weberei Felsegg des Fabrikanten Peter Zweifel markiert den
nördlichsten Punkt der Landschaft Toggenburg. Felsegg steht hier auch für die wirtschaftliche
Vielfalt – dank der Thur. Die gedeckte Strassenbrücke, ein Fabrikkanal mit zugehörigem
Maschinenhaus und Elektrizitätswerk, Fabrikhallen mit Kosthäusern und Kiesförderanlagen
sind auf engstem Raum zusammengefasst.
Felsegg bei Henau im August 1991 aus grosser Höhe aufgenommen.
Uzwil um 1920. Die industrielle Betriebsamkeit der Firmen Benninger und Gebr.Bühler lässt sich aufgrund der rauchenden Kamine erahnen. Rätselhaft erscheinen die geometrisch strukturierten Felder im Vordergrund.
Uzwil im August 1985.
Flawil um 1920. Der Bezirkshauptort des Untertoggenburgs wurde verhältnismässig tief überflogen. Bahnhof, Bezirksgebäude, Gemeindehaus und Marktplatz mit dem Hotel «Toggenburg» beherrschen die Szene im Vordergrund. Dahinter liegen die Bleicherei Guex und die Weberei
Habisreutinger-Ottiker.
Flawil im September 1983.
Degersheim um 1929. Das Ortsbild ist geprägt vom einst dominanten Degersheimer
Unternehmer Isidor Grauer-Frey (1859–1940): Links das Textilunternehmen Grauer-
Frey und unten der Bahnhof der Bodensee-Toggenburgbahn. Dass Grauer-Frey, der
Vater der Eisenbahnvision St.Gallen-Zug, selbst auf die Kirchenbauten Einfluss nahm,
dürfte weniger bekannt sein.
Degersheim im August 1987.
Quellen
- Büchler, Hans, Hrsg.: Heberlein 1835 – 2015. Schwellbrunn 2015.
- Meier, Erich: Walter Mittelholzer (1894-1937). In: Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik. Bd.48. Meilen 1987.
- Schweizerisches Handelsamtsblatt (SHAB). Link www.e-periodica.ch
- Bildarchiv der ETH-Bibliothek. Link https://ba.e-pics.ethz.ch
- Digitaler Lesesaal. Link https://dls.staatsarchiv.sg.ch/
Die wertvollen Tipps und Informationen folgender Personen seien hiermit verdankt:
- Hans Büchler, Wattwil
- René Güttinger, Nesslau
- Andreas Hinterberger, Lichtensteig
- Urs Schärli, Degersheim
- Klaus Sohmer, Henau
- Bruno Wickli, Wil (SG)
Der Beitrag ist publiziert in: Toggenburger Jahrbuch 2024.
Vollständige Bildinformationen
Mittelholzer, Walter: Henau (Felsegg, Gemeinde Uzwil), Zweifel AG, Weberei, 1931 (LBS_MH03-0430, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000491464)
Bemerkung zum Bild “Uzwil, alt”:
Die kleinparzellierten “Felder” im Vordergrund sind mit grosser Wahrscheinlichkeit sog. “Rütenen” (Gemüsepflanzteile). Diese waren, je nach Gemeinde, etwa eine halbe bis eine ganze Are gross, wurden/werden zu günstigen Konditionen verpachtet und wurden vornehmlich mit Kartoffeln, aber auch mit anderem Gemüse (Bohnen, Zwiebeln, Kohl usw.) bepflanzt. Sie waren für Fabrikarbeiter und Handwerker lebenswichtig – nichts von Schrebergartenromantik mit Häuschen, Sitzplatz und Blumen.
Die entsprechende Vermutung stand im Raum, der akten- oder zeugenbasierte Nachweis ist leider (noch) nicht gelungen.